Was kann konstruktiver Journalismus in Krisenzeiten leisten?
Konstruktiver Journalismus weicht von einer rein negativen, konfliktbeladenen Berichterstattung ab und bietet Lösungen und tiefergehende Erklärungen an. Wie wirkungsvoll dies gerade in Krisenzeiten, wie dem Krieg in der Ukraine, der Corona-Pandemie oder dem Klimawandel, ist, zeigten Expert*innen bei dem Constructive Journalism Day 2022 (CJD). Veranstaltet wurde der CJD von der Hamburg Media School (HMS) und NDR Info mit Unterstützung durch die Schöpflin Stiftung und das Bonn Institute. Wir waren für euch dabei und haben die wichtigsten Erkenntnisse zu konstruktivem Journalismus in Krisenzeiten festgehalten:
Das Problem: News Avoidance
Negative Nachrichten zu Konflikten und Krisen führen laut Prof. Dr. Alexandra Borchardt von der Hamburg Media School zu News Avoidance. Das bedeute, dass Menschen versuchen, sich vor negativen, konfliktbeladenen Nachrichten zu schützen, indem sie überhaupt keine Nachrichten mehr sehen, lesen oder hören.
Das zeigt auch der diesjährige Digital News Report des Reuters Institute: 29% der Deutschen vermeiden manchmal oder oft Nachrichten. Vor allem lässt sich dies bei den jüngeren Zielgruppen beobachten, denn unter den 18-34-Jährigen vermeiden 37% zumindest manchmal Nachrichten. Außerdem zeigt der Digital News Report, dass auch das Vertrauen in deutsche Medien abgenommen hat. Dabei hat das jüngere Publikum im Vergleich zum Rest der Bevölkerung ein geringeres Vertrauen. Auf dieser interaktiven Übersicht könnt ihr euch die Daten des Digital News Report zu News Avoidance in Deutschland ansehen.
Die Lösung: Konstruktiver Journalismus
Da konstruktiver Journalismus nicht nur Konflikte und schlechte Nachrichten zeigt, sondern verschiedene Perspektiven und Lösungen bietet, können Zielgruppen, die vorher Nachrichten gemieden haben, besser an Themen herangeführt werden. Konstruktiver Journalismus sollte jedoch nicht einfach mit positiven Nachrichten gleichgesetzt werden. Stattdessen zeige der konstruktive Journalismus ein ganzheitlicheres Bild eines Ereignisses und vermittelt – wo möglich und vorhanden – Lösungen zu den genannten Problemen.
Ellen Heinrichs und Pauline Tillmann vom Bonn Institute interviewten für ihre Studie zu konstruktiver Kriegsberichterstattung Mediennutzende. Dabei fanden sie heraus, dass sich diese unter anderem eine höhere Perspektivenvielfalt, Hintergrundinfos, eine Berichterstattung auf Augenhöhe und einen größeren Fokus auf Lösungen wünschen. Konstruktiver Journalismus ist also von dem Publikum explizit erwünscht. Keine*r der Befragten habe gesagt, dass Kriegsnachrichten beschönigt werden oder etwas weggelassen werden sollte, um das Publikum vor schlechten Nachrichten zu schützen.
Sowohl das Projekt DRIVE von der dpa und der Unternehmensberatung SCHICKLER als auch ein KI-Tool von FOCUS Online, das die Konstruktivität der Beiträge misst, konnten feststellen, dass lösungsorientierte, erklärende Hintergrundstücke zu einer längeren Verweildauer der Leser*innen führen. So könne man, laut Katja Fleischmann (dpa), Leser*innen binden und bewirken, dass mehr Leser*innen Abonnements abschließen. Weitere Informationen zu DRIVE findet ihr in unserem Interview mit Katja Fleischmann.
Wie sollten Journalist*innen konstruktiv über Krisen berichten?
Antworten auf diese Frage boten am Constructive Journalism Day unter anderem die Keynotes von Prof. Dr. Alexandra Borchardt von der HMS sowie von Ellen Heinrichs und Pauline Tillmann vom Bonn Institute. Journalist*innen sollten Folgendes beachten, um wirkungsvoll konstruktiv zu berichten:
- die Berichterstattung sollte Hintergrundinformationen bieten
- die Beiträge sollen sich – soweit es sie gibt – auf Lösungen zu den genannten Problemen fokussieren
- die Informationen sollten in den Geschichten transparent belegt werden (z.B. mithilfe von Links zu Hintergrundinformationen und Quellen)
- Journalist*innen sollten ein ganzheitliches Bild mit vielen Perspektiven zeigen
- das Thema sollte dort verankert werden, wo die Menschen leben, und sich auf das Hier und Jetzt fokussieren (z.B. die jetzige Klimawandelrealität zeigen)
- Fokus auf persönliche Geschichten, die die Wirkmacht der Menschen zeigt, anstatt sie als Opfer darzustellen
- für konstruktiven Journalismus ist Diversität wichtig – sowohl in den Geschichten als auch in den Redaktionen
- Journalist*innen sollen sich nach den Wünschen ihres Publikums richten und die Beiträge und Ausspielkanäle an die jeweiligen Zielgruppen anpassen
- sensibler Umgang mit Bildern und Sprache (z.B. könnten potenziell belastende Bilder mit einer Triggerwarnung versehen werden)
Die Herausforderungen für den konstruktiven Journalismus
Konstruktiver Journalismus stellt Redaktionen vor neue Herausforderungen. Das Bonn Institute stellte im Rahmen seiner Studie fest, dass Zeitdruck und der erhöhte Aufwand Journalist*innen an konstruktivem Journalismus hindern würden. Dies sei vor allem für freie Journalist*innen ein Problem, da sie oft nicht die Ressourcen haben, Geschichten aus verschiedenen Perspektiven aufwendig zu recherchieren.
Darüber hinaus sei konstruktiver Journalismus nicht ausreichend in den Redaktionskulturen verankert, weshalb es teilweise nicht das notwendige Wissen über konstruktiven Journalismus innerhalb der Redaktionen gebe. Eine weitere Herausforderung sei die mangelnde Diversität in den Redaktionen, die dazu führe, dass kaum unterschiedliche Perspektiven und Protagonist*innen gezeigt würden.
Birgitta Schülke von der Deutschen Welle betonte außerdem in der Diskussionsrunde des CJD, dass für eine umfassende Hintergrundberichterstattung ausreichend Sendezeit und Ressourcen zur Verfügung stehen müssten. Hier habe die Deutsche Welle beispielsweise bereits umstrukturiert und längere Sendezeiten für umfassendere Nachrichten ermöglicht.
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