Noch 99,5 Weltfrauentage
Heute ist Weltfrauentag – eine „Farce“, findet Ciani-Sophia Hoeder. Warum sie keine kalendarische Erinnerung daran braucht, wie schlecht es um die Gleichberechtigung von Frauen und Männern steht und wie wir schneller in einer gleichberechtigten Gesellschaft ankommen würden, sagt die Berliner Journalistin und Mediapreneurin in diesem Gastbeitrag.
Die Pornoindustrie und das Influencer Marketing. Das sind die zwei Medienbereiche, in denen Frauen mehr Geld als Männer verdienen. Cheers dazu, denn heute ist Weltfrauentag!
Aber jeder Tag ist Frauentag, lautet eine Floskel, über die ich immer wieder stolpere und die einfach nicht stimmt. Jenseits von Deep-Throat-Praktiken und Selfie-Sticks verdienen Frauen im Durchschnitt weiterhin halb so viel wie Männer.
Sollten sie darüber hinaus in einer heterosexuellen Ehe mit Kindern leben, müssen sie neben ihrem Vollzeitjob noch 4,5 Stunden täglich an kostenloser, unbezahlter Arbeitszeit obendrauf packen, die sie mit putzen, schrubben oder damit verbringen, mit ihren Kindern über die Schulaufgaben zu brüten – #Corona. Bei einer *transfrau kommt erhöhte Gewalt und stärkere Diskriminerung am Arbeitsplatz und im Sozialen hinzu, aber hey, jeder Tag ist ja Weltfrauentag.
Natürlich ist das die Quintessenz dieses Tages. Eine kalendarische Erinnerung, dass wir die Frauenthemen aus der medialen Schublade ziehen. Die Beleuchtung des feministischen Status Quo. Das Sinnieren an die deutsche Sozialistin Clara Zetkin, die am 27. August 1910 auf der Zweiten Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Kopenhagen den heutigen Tag etablierte.
Nur: Dieses Ritual werden wir noch knapp 99,5 Jahre durchführen. Solange dauert es laut einer Untersuchung des World Economic Forums, um zu einer vollständigen Gleichstellung von Mann und Frau in der Arbeitswelt, Bildung und in der Politik zu gelangen. Das werde ich nicht mehr erleben. Außer die Menschen finden bald noch einen Weg, nicht nur ihre Haustiere zu klonen, sondern auch sich selbst.
Bis dahin begnügen wir uns mit diesem Tag, an dem auf Fußgängerwegen bordeauxrote Rosen willkürlich an Frauen verteilt werden oder es beim Einkauf Gratis-Schokolade gibt. Zumindest war das vor Corona zum Weltfrauentag so. Nun gibt es nichts Süßes, sondern demotivierende Statistiken, digitale Glückwünsche, unzählige Brands, die sich etwas „Nettes“ überlegen und Frauen im Homeoffice, die mit ihren Kindern auf dem Schoß arbeiten.
Das klingt zynisch. Doch ich bin ungeduldig und müde. Ich möchte nicht mehr über patriarchalische Strukturen lamentieren. Ich brauche keine Schokolade oder eine Rose. All das kann ich mir selbst kaufen, auch wenn auf meinem Bankkonto als Selbständige im Vergleich zu meinen männlichen Kollegen 44 Prozent weniger Geld landet.
Aktuell sind sechs Vorstände der 30 Dax-Konzerne ausnahmslos mit Männern besetzt und insgesamt 15 Prozent der Dax-Vorstandsmitglieder*innen sind Frauen. Deutschland hinkt im Vergleich zu den USA, Schweden, Großbritannien und Frankreich weiterhin hinterher.
Wir brauche keinen besonderen Tag, sondern Quoten, strukturelle Förderungen, einen besseren Kitaausbau, Reformen, um den Übergang von der Elternzeit in den Beruf zu erleichtern, Business Angels, die auch in Gründerinnen investieren und vieles mehr.
Es wird eine exorbitante Energie und Zeit in die Marketingmaschinerie um den Weltfrauentag investiert, dass ich mich frage: Wenn wir all diese Energien bündeln, müssten wir diese ganze Farce keine 99,5 Mal durchlaufen. Wir wären schneller in einer gleichberechtigten Gesellschaft. Ich könnte sie sogar noch miterleben! Aus einer Floskel würde Realität: Denn dann wäre jeder Tag ein Frauentag.
Ciani-Sophia Hoeder ist freie Journalistin und Gründerin sowie Chefredakteurin von RosaMag. Das erste Online-Lifestylemagazin für Schwarze Frauen im deutschsprachigen Raum war 2020 unter anderem für den Grimme Online Award nominiert. Hoeder schreibt nicht nur über Rassismus, sondern auch über Gesellschaft und Politik, über das Dasein eines Millennials, Feminismus und Popkultur.
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