Predictions 20/22: Trends im Bereich Business Model Innovation

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Individualisierung, Diversifizierung, Professionalisierung – Neue Wege für Paid Content

Ob neuer Content, spannende Technologien oder gesellschaftlicher Impact, am Ende steht doch immer noch die Frage: Und wie verdient man damit nun Geld? Wenn sie auch nicht immer leicht zu beantworten ist, eine große Rolle wird die Frage nach innovativen Geschäftsmodellen definitiv auch 2022 spielen. Also haben wir Pia Frey, Martin Fehrensen, Kerstin Fröhlich, Jonas Bedford-Strohm und Jana Wuttke gefragt, welche Entwicklungen sie für die Branche in diesem Bereich erwarten – und wo Handlungsbedarf besteht.

So viel sei schon einmal verraten, unsere fünf Expert*innen verlieren sich nicht im Klein-Klein, hier geht’s ums große Ganze. Ob Audio, Video, Publishing – viele aktuelle Entwicklungen werden im kommenden Jahr noch verstärkt und sorgen für seismische Aktivitäten in der Branche. Und dann ist da auch noch die Creator Economy! Ein Phänomen, das noch vor kurzer Zeit als großer Spielplatz für die Gen Z hätte abgetan werden können, nimmt zunehmend konkrete Formen an, professionalisiert sich und sollte spätestens 2022 in jedem Handbuch für klassische Medienunternehmen stehen, und zwar mit folgendem Merksatz im Intro: Der Hype um die Creator Economy ist gerechtfertigt!“ So drückt es Martin Fehrensen aus, der mit dem Social Media Watchblog gleichzeitig Vertreter und Beobachter dieses Phänomens ist. Denn: Zum ersten Mal seit der Erfindung des Internets können sich freie Kreative für ihre Arbeit im Internet adäquat bezahlen lassen. Und zwar unabhängig von traditionellen Auftraggeber*innen und vor allem gänzlich ohne schmierige Brand Deals samt der Notwendigkeit, sich als Dauer-Werbebotschafter*in zu gerieren“, betont Fehrensen. Beispiele sind YouTuber wie Rezo, der Werbeerlöse mit Hilfe des auf Creator*innen fokussierten Partnerprogramms generiert oder das kreative Allround-Talent Fynn Kliemann, der seine Musik in Eigenregie veröffentlicht. Hilfreich sind dabei Tools wie Steady oder Substack, die ihnen eine Infrastruktur an die Hand geben, mit denen sie ihre Inhalte monetarisieren können. 

Creator Economy on the Rise

Und genau an der Stelle horcht die „restliche“ Medienbranche auf. Denn die Kooperation mit Content Creator*innen (auch bekannt als Influencer*innen) sind für viele Medienmarken bisher eine wichtige Brücke zu den „jüngeren Zielgruppen“, dem nach wie vor heiligen Gral traditioneller Medienhäuser. Beispielsweise die Zusammenarbeit zwischen der Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim und funk, für die sie den YouTube-Kanal MaiLab produziert, der inzwischen 1,4 Mio. Abonnent*innen vorwiegend in der jungen Zielgruppe aufweist. 

Aber, auch für die Creator Economy gelten neben dem Segen auch der Fluch unserer Aufmerksamkeitsökonomie: „Mit der Professionalisierung beginnt auch der Hustle: Nur wer permanent liefert, wird auch davon leben können“, gibt Martin Fehrensen zu bedenken. „Creator*innen müssen aufpassen, dass sie nicht alleine dastehen. Alle gegen alle ist auf Dauer keine Option.“ Erste Lösungsansätze dazu gibt es bereits in Form von Mikroverlagen.  Ein Beispiel ist Defector, eine mitarbeiter*innengeführte News-Seite rund um Sport und Kultur, die ihre Mission folgendermaßen auf den Punkt bringt: „We started this company because media is fucked now,“ brüllt es auf ihrer Webseite einer ganzen Branche entgegen. Und: „We aren’t here to gratify ourselves or churn out ‘content’, a word wholly devoid of ideas and values, but to create good work that will earn your loyal readership.“ Hier entsteht derzeit eine neue Generation an Medienunternehmer*innen, die Content in selbstorganisierten Strukturen aus einer bestimmten Haltung produzieren und damit einen Nerv der Zeit treffen. Eine Chance, die auch die traditionelle Medienlandschaft nicht ungenutzt verstreichen lassen sollte.

Debundle!

So sieht das auch Pia Frey, Gründerin von Opinary und Gewinnerin des scoop Award 2021, die sich in diesem Jahr mit einem Appell an die Branche wandte: Anstatt den Content Creator*innen (nur) hinterherzulaufen oder, noch schlimmer, sie zu ignorieren, sollten vor allem Publisher von den Mechanismen der Creator Economy lernen. „Debundle!“ rief sie ihnen entgegen und bot ihnen damit einen neuen, vielversprechenden Strohhalm inmitten des zunehmend wieder trüben Paid-Content-Sumpfes an.

„Menschen fällt es deutlich leichter, eine Beziehung zu Menschen aufzubauen, als zu Unternehmen und zu abstrakten Organisationen.“

„Die erste Paid-Content-Welle ist vorbei“, erklärt Frey, und „die Bezahlbereitschaft für Nachrichtenangebote hat sich auf moderate 10 Prozent eingependelt.“ Im kommenden Jahr könnte es also an der Zeit sein neue Wege zu gehen – und die sieht Frey in der Creator Economy schon vorgezeichnet.

Der Erfolg einzelner Creator*innen steckt laut Freys These in der Personenmarke: „Menschen fällt es deutlich leichter, eine Beziehung zu Menschen aufzubauen, als zu Unternehmen und zu abstrakten Organisationen.“ Und genau in dieser Direktbeziehung sieht die Opinary-Gründerin die Voraussetzung für mehr Zahlungsbereitschaft: „Für drei bis fünf Euro den Lieblingskolumnisten abonnierbar machen. Nischen-Interessen in der eigenen Audience identifizieren und bezahlpflichtig vermarkten. Als Paid Newsletter, als Paid Podcast oder als klassischen Paid Content auf der Website.“ Die Bekanntheit dieser Personenmarken lässt sich gut am Podcast-Boom aufzeigen: Erfolgsformate großer Medienhäuser wie ZEIT Verbrechen oder The Daily von der New York Times leben von der Beliebtheit und Authentizität ihrer Hosts Sabine Rückert bzw. Michael Barbaro, beides langjährige Redakteur*innen ihrer Verlage. 

Als zweiten Erfolgsfaktor identifiziert Frey „die Trendwende weg vom Vollsortiment und hin zum bezahlpflichtigen Spartenkanal“. Paradebeispiel hierfür ist das Nachrichtenportal Politico, das anstelle einer Paywall für alle auf exklusive Spezialinformationen häufig in Form von Newslettern setzt, für die eine spitze Zielgruppe aus Lobbyverbänden, Finanzinstituten und Konzernen bereit ist, verhältnismäßig hohe Preise zu zahlen. Wenig verwunderlich, dass Axel Springer das Medienunternehmen 2021 für die stolze Summe von 1 Mrd. US-Dollar gekauft hat

Content & Commerce

Nicht jede*r wird so viel Geld in der Portokasse haben, daher gibt es zum Glück noch andere Strategien, die den Publishern im kommenden Jahr neuen Aufwind verschaffen könnten. Eine davon ist nicht minder radikal und hat bereits letztes Jahr an dieser Stelle Eingang in die Predictions 20/21 gefunden, als Joachim Dreykluft, Mitglied der Geschäftsleitung von NOZ Digital, dazu aufrief, „den Verkauf journalistischer Produkte im Internet als das [zu verstehen], was er ist: E-Commerce.“ Ansage! Beim SPIEGEL zeigen die Zeiger in dieselbe Richtung: „Medieninhalte werden immer mehr zu Vertriebsprodukten“, betont Dr. Kerstin Fröhlich, denn „Nutzer*innen zahlen direkt für Inhalte anstatt indirekt mit Daten im werbefinanzierten Reichweitenmodell.“ Fröhlich leitet beim SPIEGEL das Innovationsmanagement, wo zuletzt auch in ausgeschriebenen Stellenausschreibungen das Wort Commerce zu finden war – denn Fröhlich denkt noch einen Schritt weiter: „Zusätzlich verzahnen sich die Bereiche Content und Commerce weiter“, sagt sie voraus. Das könne schließlich auch zu einer erhöhten Zahlungsbereitschaft führen, durch „neue Geschäftsmodelle und Angebote, die innovative Mehrwerte über Medieninhalte hinaus bieten“.

Um dieses Ziel zu erreichen, bringt Fröhlich zwei wichtige Begriffe ins Spiel: „Valuetizing“ und „Curated Consumption“. Ersteres beschreibt den Trend, wonach sich (Medien)Marken zunehmend mit einem anspruchsvollen Publikum konfrontiert sehen, welches möglichst individuell relevante und als besonderen Mehrwert erfahrenen Inhalte und Botschaften verlangt – und dafür auch bereit ist zu bezahlen (dazu auch Meik Vogler in seiner Prognose im Trendbericht „Media & Society“). Eng damit verbunden beschreibt Curated Consumption die Entwicklung zu einem von Marken kuratierten Kauf- und Nutzungserlebnis. Wird nach der Apple Store Experience und dem Familientag bei Ikea nun auch der Konsum journalistischer Inhalte noch stärker zum Erlebnis? Fröhlich sieht darin – „natürlich unter strikter Wahrung der journalistischen Unabhängigkeit und mit scharfem Blick auf die Glaubwürdigkeit unserer Marken“ – nicht nur großes Potenzial für, sondern gewissermaßen auch eine Notwendigkeit, diese Entwicklung mitzugehen. Beispiele sind die Augmented Reality-App der Hamburger Morgenpost, mit der Tourist*innen und Einwohner*innen eine Zeitreise an legendären Orten wie der Reeperbahn machen können, oder Live-Events, wie sie die Agentur Julep mit ihrer Podcast-Marke „Schwarze Akte“ interaktiv auf die Bühne bringt.

Quo vadis, Audio?

Podcasts sind ein gutes Stichwort, denn der boomende Audio-Markt hält Produktentwickler*innen und Business Developer*innen weiterhin auf Trapp. Das wird wohl auch 2022 so bleiben. Jana Wuttke, Product Manager Audio & Voice dpa Deutsche Presse-Agentur, nennt uns ein paar Gründe: „Der Wettbewerb zwischen den größten Akteur*innen im Audiobereich nimmt weiter zu, wobei gerade der Podcast-Markt eine entscheidende Rolle spielt. Die Sicht- und Auffindbarkeit von Inhalten wird noch stärker von den Plattformen selbst bestimmt, die in einer Doppelrolle als Verbreiterinnen und Produzentinnen exklusiver Formate auftreten.“

Monetarisierung der Podcasts fand bisher vor allem über Werbung statt – inzwischen öffnen sich immer mehr Anbieter*innen für bezahlpflichtige Optionen. Apple bietet seit Juni 2021 ein Abo-Modell für Publisher und Podcaster*innen an; Spotify hat im Oktober 2021 mit Megaphone ein neues Tool in Deutschland an den Start gebracht, mit dem der Zugang zu den Inhalten nicht nur kostenpflichtig gestaltet werden kann, sondern eine Vielzahl an Mess- und Analysemöglichkeiten hinzukommen. 

Um mit Mehrwerten die Zahlungsbereitschaft zu erhöhen, wird derzeit auch viel mit Technologien und Formaten experimentiert. „Technische Neuerungen ergeben sich zum Beispiel bei der Personalisierung und Einbindung von Hörer*innen, die in Livestreams direkt diskutieren, empfehlen und spenden können – alles in einer App. Inhaltlich erwarte ich mir durch medienübergreifende Kooperationen und neue unabhängige Studios mehr aufwendig produzierte Dokumentationen und fiktionale Stoffe“, so Wuttke weiter. Auch hier spielen die Plattformen eine zentrale Rolle: Bei Spotify gibt es inzwischen Umfragen und Q&As fürs Community Building, Amazon entwickelt unter dem Arbeitstitel „Project Mic“ ein personalisierbares Live-Audio-Angebot mit Interaktionsmöglichkeiten via Smart Speaker. Mit einem Audio Only-Modus versucht sogar Videostreaming-Marktführer Netflix einen Teil des boomenden Audiomarkts für sich zu beanspruchen. 

Auch an der Formatfront tut sich einiges, wie folgende Beispiele zeigen: Die Sneakerjagd, eine medienübergreifende serielle Reportage, die das Recherche-Start-up flip in Zusammenarbeit mit NDR Info, der Zeit und Strg_F Ende 2021 veröffentlicht hat, gibt es in Textform, als Podcast und in Videoform. Ähnlich aufwändig war die Podcast-Produktion „Cui Bono – WTF happened to Ken Jebsen?“, die inzwischen sogar verfilmt wird.  

2022 wird das Audio-Wachstum also weitergehen, allerdings zeigen die Entwicklungen eine Ausdifferenzierung des Marktes und die bedeutende Rolle, die insbesondere die großen Plattformen, in diesem Bereich spielen. Es wird spannend sein, wie sich die deutschen Content-Unternehmen hierzu positionieren.

Konsolidierung im Streamingmarkt?

Ähnlich aufregend wird es nächstes Jahr vermutlich auf dem heimischen Video-Streamingmarkt zugehen. „Es reift überall die Einsicht, dass wir in Deutschland nur durch übergreifende Kooperationen genug Skalen-Effekte bei Content und Ressourcen erzielen, um globalen Plattformen auf Augenhöhe zu begegnen.“, so schätzt Jonas Bedform-Strohm, Strategy Communications Manager ARD, die Lage ein. RTL beispielsweise bündelt in Zukunft alle Inhalte (Audio, Video und Print) auf der gemeinsamen Streaming-Plattform RTL+. Auch die Mediatheken der Öffentlich-Rechtlichen wachsen weiter zusammen: Einen ersten Schritt sind ARD und ZDF dieses Jahr bereits damit gegangen, dass 250.000 Inhalte senderübergreifend in beiden Mediatheken auffindbar sind.

Die Nutzung von Bewegtbildinhalten nimmt 2021 dank Corona weiterhin zu, während die anderer Gattungen (u.a. Audio und Text) laut der aktuellen Studie Massenkommunikation-Trends 2021 rückläufig ist. Wie wichtig es auch für klassische Fernsehsender ist, auf Streaming und Mediatheken zu setzen, zeigt der Blick auf die junge Generation: Bei ihnen überwiegt der asynchrone Abruf via YouTube, Netflix & Co mit 78 Prozent deutlich. Diese Tendenz wird sich laut Bedford-Strohm noch verschärfen: „Katalysiert wird das Jahr 2022 von der stetig wachsenden Generationenkluft, die immer mehr die Spreu vom Weizen trennt.“

Unsere Expertinnen und die Entwicklungen der Märkte zeigen, dass die Schere in der Contentbranche 2022 noch weiter auseinandergehen wird: Individualisierung, einzelne Content Creator*innen und Debundle-Strategien auf der einen Seite, globale Massenphänomene und Plattformen, die unterschiedlichste Medieninhalte bündeln auf der anderen. Die Frage ist, was passiert mit denen, die zwischen den Extremen liegen? Wo finden sie ihre Nische und den dafür passenden Geschäftsmodell-Mix? Es wird ein aufregendes Jahr – ganz unabhängig von Corona.

Dieser Trendbericht ist Teil der Predictions 20/22. Mit diesem jährlichen Format blicken wir in die Zukunft der relevantesten Technologien, Innovationen und Entwicklungen der Contentbranche.

Hier geht es lang zu allen Zukunftsprognosen unserer Expert*innen.

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